Der glückliche Staat
Der Wohlfahrtsstaat steht in Gegnerschaft zum Subsidiaritätsprinzip, das als natürliches Ordnungsprinzip eine Aufforderung zur Eigenverantwortung wider die Bequemlichkeit ist. Es geht aber um die Frage: Sind wir freie Bürger oder nicht?
Sie gehört heutzutage zu den Modewörtern in so ziemlich allen Diskussionen über Europapolitik, über die EU und über die europäische Einigung. Die Subsidiarität. Seit dem Vertrag von Maastricht ist sie Bestandteil der europäischen Verträge. In Artikel 5 des EG-Vertrages heißt es: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Soll es zu einer neuen Gesetzesinitiative auf EU-Ebene kommen, muss die Europäische Kommission nachweisen, dass die jeweilige Aufgabe auf EU-Ebene besser gelöst werden kann als in den Mitgliedstaaten. Im Vertrag von Amsterdam wurde noch ein Subsidiaritätsprotokoll verankert, das weitere Präzisierungen dazu enthält. Mittlerweile gibt es auch ein Verfahren, mit dem die nationalen Parlamente einschreiten können, wenn sie meinen, ein Vorschlag würde der Subsidiarität widersprechen.
Subsidiarität ist mehr
Allerdings ist die Definition in Artikel 5 mangelhaft. Erstens weil sie nur auf das Verhältnis zwischen EU und Mitgliedsstaaten abzielt, zweitens weil sie Subsidiarität auf eine Art Kompetenzabgrenzung reduziert, nach der Mitgliedsländer Kompetenzen auf die europäische Ebene heben. Tatsächlich ist aber Subsidiarität deutlich mehr, nämlich ein natürliches Ordnungsprinzip, das den Grundsatz „in dubiis libertas“ miteinbezieht. Es muss ja nicht zu allem eine gesetzliche Regelung geben (egal auf welcher Ebene), weil es so etwas wie Freiheit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung gibt.
Präziser in der Definition war hier Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“, in der er den „sozialphilosophischen Grundsatz“ (Subsidiarität), an dem „nicht zu rütteln noch zu deuteln ist“ definiert: „wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung.“
Pius XI. argumentiert, dass durch die Beachtung dieses Grundsatzes die jeweiligen Einheiten der Gesellschaft viel besser funktionieren, als wenn sich die Staatsgewalt in alle Bereiche einmischt: „je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, umso stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, umso besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt.“
Big government – limited citizen
Der mittlerweile fast schon in Vergessenheit geratene Ökonom Felix Somary streicht genau diesen Grundsatz – das bessere Funktionieren des Staates bei Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips – in seinen „20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen“ hervor. Im Gesetz Nummer 4 sagt er: „Je mehr Funktionen ein Staat übernimmt, desto schwer ist seine Verwaltung zu kontrollieren.“ Und er ergänzt im Gesetz Nummer 5: „Je größer und je vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk.“
Aber vielleicht liegt genau darin eines der Probleme mit dem Subsidiaritätsprinz verborgen. Nimmt man die Definition in der päpstlichen Enzyklika und bei Felix Somary ernst, dann ist hier auch eine Verpflichtung zur Eigeninitiative und zur Eigenverantwortung formuliert. Es ist ja nicht nur die Regelungswut von Politikern und Bürokraten, sondern auch die Bequemlichkeit des Einzelnen, der Ruf nach dem Staat, der doch die Dinge ordnen soll (auch wenn er, je mehr Aufgaben er nimmt, immer mehr zum Scheitern verurteilt ist), die das Prinzip der Subsidiarität in den Hintergrund gedrängt haben. Übernommen hat der Wohlfahrtsstaat: ein politisches Konzept, das die Bürger – noch dazu mit ihrem eigenen Geld – vom Staat abhängig macht.
Limited government – free citizen
Subsidiarität ist nicht denkbar ohne die Idee der Freiheit, weil Freiheit immer verbunden ist mit Verantwortung. Freiheit ohne Verantwortung kann nicht existieren und Verantwortung kann aber auch nicht ohne Freiheit existieren. In dem Augenblick wo der Staat beginnt Dinge zu regeln, die genaugenommen in der Kompetenz des Einzelnen liegen, beschränkt er Freiheit und Verantwortung.
Wenn der Einzelne seine Verantwortung nicht mehr selber wahrnimmt, entschwindet auch der Begriff der Freiheit. Dann diskutieren wir über Subsidiarität, ohne uns tatsächlich im Klaren zu sein, was Subsidiarität bedeutet. Die Beschränkung der staatlichen Allmacht gehört ganz sicher zu ihrem Wesenskern. Man könnte es auch „limited government“ nennen.
studierte Volkswirtschaftslehre in Wien und war während seines Studiums Hochschülerschaftsmandatar sowie Generalsekretär der Jungen Europäischen Studenteninitiative (Jes). Später war er als Journalist tätig, bevor er 1996 als wissenschaftlicher Mitarbeiter ins Europäische Parlament wechselte. 1999 wurde Kloucek Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich, die sich für eine europäische Einigung auf christlich-subsidiärer Basis einsetzt.